Von Anthony Phelps
Gesicht
Zwischen der Sandfarbe der Zeichnung und der Streichung im Text
habe ich immer dieses Gesicht auf der Zungenspitze.
Als erstes Übungsheft meiner Schritte im Schreiben
höhlt es mein Hiersein aus und gibt mir ein Dach zum Leben.
An jedem Markstein meiner Pausen hebe ich zu einem Gebet an.
Ich bin in ihm es ist in mir Gedächtnisbaum.
In den frühen Stunden der Freundschaft
wenn die Schmetterlinge heranreifen
fügt sein Mosaik meine aussagekräftigen Bruchstücke zusammen.
Ein sanftes Raunen von Jugendlichen beim Himmel-und-Hölle-Spiel
bauscht seine Wimpern auf
und das ferne Stammeln der Kinder beim Buchstabieren
bringt die Freudenschnecke zum Laufen.
Doch in der stummen Zeichensetzung der Irrfahrt
wenn die Stille dazwischentritt
wie eine unheilbringende Anwesenheit
fehlen mir allerlei Hände um seine Falten zu zählen.
Ich habe immer dieses Gesicht auf der Zungenspitze
in gebrochenen Verzug Zwilling des Gedichts.
Zauberer
An manchen Abenden im kupferfarbenen Herbst
tauchen die leuchtenden Körper der verschwundenen Dichter
eigenartig nackt rein wieder auf.
Spiegel des Rätsels der Gräber
suchen Magier und Wolkenzauberer
im Garten aus Purpur und Eis
ein Echo auf ihr alchemistisches Wort.
Einsame Sterne von schlafloser Aufrichtigkeit
handeln ihre entfesselten Bewegungen
die schrägen Bögen des Worts aus.
An manchen Abenden im schneidenden Herbst
wenn sich die Nacht kaum von ihren Bändern befreit
weckt ein seltsamer Schreinersog
die stehenden Gewässer der Frauen.
Überm ungehobelten Versteck ihrer Hüften
erhebt sich eine ungeduldige Rundung
bricht in geheimnisvolle Ektase aus.
An manchen Abenden im kupferfarbenen Herbst
tauchen die leuchtenden Körper der verschwundenen Dichter
als Zauberer des Verlangens
als Befreier von Muschelgesängen wieder auf.
Aus dem Franzsöischen von Rike Bolte
Die beiden Gedichte erscheinen im Herbst 2021 in einer zweisprachigen Ausgabe ausgewählter Lyrik von Anthony Phelps im Litradukt-Verlag.

Anthony Phelps, Lyriker, Prosaautor, Journalist, Vortragskünstler und Bildhauer, geboren 1928 in Port-au-Prince, kann als lebender Klassiker Haitis gelten. Nach einem Chemiestudium in den USA gehörte er 1960 zu den Gründern der Gruppe Haïti Littéraire und der Zeitschrift „Semences“, die der haitianischen Literatur bedeutende Impulse verleihen sollten. Als Gegner Duvaliers musste er 1964 nach zweiwöchiger Haft ins Exil nach Montreal gehen, wo er noch heute lebt. Bis zu seiner Pensionierung war er dort als Nachrichtenredakteur bei Radio Canada tätig. Er gilt auch als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Québecs. Sein literarisches Werk umfasst etwa dreißig Bücher.