Von Gary Victor
KRIK! …*
KRIK! …
Allerhand!
Mesyedam lasosyete*, bei uns gehen die Traditionen verloren!
Pech für Sie, wenn Sie nicht mit Krak antworten!
Ich bin es mir schuldig, Ihnen diese unglaubliche Geschichte zu erzählen. Stellen Sie sich vor, gerade erst um acht Uhr heute Morgen habe ich meinen Namen im Radio bei den Todesmeldungen gehört. Als ich den Schock überwunden hatte, habe ich schleunigst zum Telefon gegriffen, um das für diesen schädlichen und nicht zu entschuldigenden Irrtum verantwortliche Unternehmen anzurufen. Heutzutage sieht und hört man einfach alles in diesem Land … Stellen Sie sich das vor! Meine Bestattung! Meine, von mir, der ich vor Ihnen stehe und Ihnen von diesem schrecklichen Irrtum erzähle! Es sei denn, jemand hat denselben Namen wie ich. Allerdings ist Dieuseul Minuit Jésula kein sehr häufiger Name in Haiti, zumindest nicht in dieser Dreierkombination. Was mich aber viel mehr beunruhigt hat, während ich die Telefonnummer des Bestattungsunternehmens wählte, war die äußerste Präzision der Ankündigung. Die Kondolenzen waren an meine Söhne Louis und Jean-Pierre Jésula, meinen Bruder Léonce Jésula und seine Frau, geborene Carmen Pierre Brun, gerichtet. Alle folgenden Namen und die aufgeführten Verwandtschaftsbeziehungen waren korrekt.
Die Sekretärin, die mir am Telefon antwortete, konnte ihre Verblüffung nicht verbergen, als ich ihr den Anlass meines Anrufs nannte. „Sie sind Dieuseul Minuit Jésula“, stotterte sie in den Hörer. Doch als ich weiter hartnäckig versuchte, ihr begreiflich zu machen, dass ich wirklich die genannte Person war, hat sie mir in schroffem Tonfall gesagt, dass der Scherz äußerst geschmacklos sei. Sie hat mit einem Zischlaut der Lippen aufgelegt, der lange in meinem Ohr nachklang.
Ich habe tief durchgeatmet, um zu versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Ich konnte nicht tot sein, weil ich mir hell bewusst war zu existieren. Bis zum Beweis des Gegenteils musste ich mich mit dieser einfachen Feststellung behelfen, die nicht zu bezweifeln war. Ich kam zu dem Schluss, dass ich so schnell wie möglich zu diesem Bestattungsunternehmen fahren musste, das meine Beisetzung für den nächsten Tag um vier Uhr angekündigt hatte. Nachdem ich einmal diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte ich mich ruhiger. Ich ging mir die Zeitung holen, die der Junge unter die Tür geschoben hatte. Um zu wissen, woran ich war, schlug ich unverzüglich die Seite mit den Todes- anzeigen auf. DA WAR ICH!!! Man gab die traurige Nachricht bekannt, dass Dieuseul Minuit Jésula im Alter von sechsundfünfzig Jahren zu Hause an einem Herzinfarkt verstorben war. Wenn das ein Scherz sein sollte, ging man hier etwas zu weit! Ich war zwar sechsundfünfzig Jahre alt, aber mein Herz hatte meines Wissens immer wunderbar geschlagen.
Mir kam ein Gedanke. Um mir zu beweisen, dass alles ein furchtbarer Irrtum war, habe ich das Bestattungsinstitut erneut angerufen. Man würde sich bestimmt an einen Anruf von jemandem erinnern, der sich als Dieuseul Minuit Jésula ausgegeben hatte. Dieselbe Sekretärin war am Apparat. Sie wirkte überrascht, als sie den Anlass für meinen Anruf erfuhr. Verrückte riefen das Unternehmen nicht an, versetzte sie mir, bevor sie wütend auflegte.
Das war ein Scherz, der immer beunruhigender wurde. Fieberhaft griff ich wieder zum Hörer, um Alix, einen meiner besten Freunde, anzurufen. „Hallo, Alix … Dieuseul am Apparat …“ – „Sprechen Sie lauter … ich verstehe Sie schlecht.« Ich brüllte entsetzt: »Ich bin’s, Dieuseul … Dieuseul!« Alix beharrte: »Sprechen Sie lauter: Ich kann Sie nicht verstehen …“ Entmutigt rief ich Clark, Robert, René an, alles Freunde und wie ich dem Rum und dem Kleren* ergeben. Immer war es dieselbe Leier: „Sprechen Sie lauter … ich verstehe Sie nicht.“
Dies war kein Scherz mehr … Das musste eine Verschwörung sein, angezettelt mit dem Ziel, mich verrückt zu machen. Ich wollte mir eine kalte Dusche verabreichen, um den Kopf klar zu bekommen. Als ich das Bad betrat, entdeckte ich, dass sich diese makabre Farce fortsetzte. Mein Ebenbild im Spiegel an der Wand war nicht vorhanden. Ich war mir bewusst, da zu sein, aber in dem kleinen Raum war absolut nichts. Ist das nicht sonderbar, mesyedam lasosyete? Ich stehe doch deutlich vor Ihnen und rede mit Ihnen. Das beweist doch, dass ich nicht tot bin … Aber so sagen Sie doch etwas! Antworten Sie mir! Es geht um Leben und Tod.
KRIK … KRIK … KRIK …
ANMERKUNGEN
Krik!: Ausruf, mit dem ein Geschichtenerzähler seinen Vortrag einleitet und sich von Zeit zu Zeit der Aufmerksamkeit der Zuhörer versichert. Das Publikum antwortet „Krak!“
Mesyedam lasosyete: meine Damen und Herren (Anrede des Geschichtenerzählers an die Zuhörerschaft).
Kleren: klarer Zuckerrohrschnaps. Aus den Pressrückständen hergestellt, deshalb billiger als Rum.
Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte
Aus „Dreizehn Voodoo-Erzählungen“, Litradukt, Trier 2018

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, ist der meistgelesene Gegenwartsautor Haitis. Mehrere seiner Figuren wurden zu feststehenden Typen. Dieuswalwe Azémar, der Inspektor aus „Schweinezeiten“ (2013), „Soro“ (2015), „Suff und Sühne“ (2017) und „Im Namen des Katers“ (2019), ist auch im deutschsprachigen Raum auf dem besten Weg dazu: Alle vier Bücher konnten sich auf der Krimibestenliste (ZEIT bzw. FAS/DLF Kultur) und auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren.