Von David Signer
X. sagte mir oft, wie gerne er die Welt einmal durch die Augen eines andern sähe: „Durch die Augen von dir, von Valérie, von Fabian, eines Senegalesen, einer alten Römerin, eines Neandertalers, durch die Augen von mir selbst, als ich vier war, oder sogar durch die Augen einer Katze oder einer Ameise.“ In die Haut, den Körper eines andern schlüpfen. Wen wundert’s, dass er von Besessenheit, Seelenwanderung und multiplen Persönlichkeiten fasziniert war. Und von Masken. Er sprach gerne davon, dass in Afrika jemand, der beispielsweise eine Vogelmaske trägt, wirklich zu einem Vogel wird.
Eines Abends nahm er mich in Abidjan zu einem Ritual mit. Wir fuhren im Sonnenuntergang an den Stadtrand hinaus, zu einer ärmlichen Siedlung in der Nähe einer riesigen Müllhalde. Schwaden von beissendem Rauch wehten vorbei. Der Weg wurde immer schmaler und grasüberwachsener, bis wir das Auto stehen lassen und zu Fuss weitergehen mussten. Von weitem hörten wir Trommeln. Bei einem roten Zelt winkte uns jemand herein. Im Innern war es überraschend warm, es duftete nach Weihrauch. Ein paar Dutzend Leute hockten auf bunten Tüchern, die man über dem sandigen Boden ausgebreitet hatte. Eine ältere Frau wies uns einen freien Platz zu, wir setzten uns hin. Alles war in rötliches Licht getaucht. Vorne stand ein Tisch mit Schalen, Gefässen, Tellern und Flaschen, halb Altar, halb Theke. Drei Männer mit nackten Oberkörpern trommelten in komplexen, versetzten Rhythmen, mehr und mehr wurden wir in diesen perkussiven Kosmos hineinversetzt, erlebten ihn nicht mehr als Zuhörer, sondern von innen. Ich glaube, wir waren schon leicht in Trance, als eine junge Frau nach vorne trat. Sie sah verschüchtert aus, es war ihr sichtlich unwohl in ihrer Haut. Ein älterer Mann in einer Art Tunika nahm einen Schluck Schnaps aus einer Flasche vom Altartisch und prustete der Frau damit einen feinen Sprühregen ins Gesicht. Sie verzog keine Miene. Dann stand sie unsicher auf und machte zögernd ein paar Schritte. Der Alte – wahrscheinlich der Priester – bestäubte sie mit Kaolin, weissem Lehmpuder, der die Geister anzieht. Plötzlich blickte sie starr ins Publikum, knapp an mir vorbei. Erst nach ein paar Sekunden realisierte ich, dass es X. war, den sie fixierte. Ich drehte den Kopf nach links und bemerkte, dass er ebenso hypnotisiert in ihre Richtung schaute.
Dann, ganz langsam, streckte sie sich, schien Zentimeter um Zentimeter zu wachsen, auch ihr Selbstbewusstsein nahm sichtbar zu, und ihre ganze Körpersprache bekam auf einmal etwas Lässiges, Nonchalantes, Cooles. Auch etwas Erotisches, aber mehr männlich als weiblich. Herausfordernd blickte sie auf die Anwesenden, als ob sie ihr zu Füssen lägen. Sie beugte sich zu einer jungen Schönheit herab, die im Schneidersitz dasass, ihr hochgerutschter Rock gab ihre Waden und ihre Knie frei, die im flackernden Lichtschein glänzten. Erst jetzt sah ich, dass man inzwischen überall am Boden Öllampen und Kerzen entzündet hatte. Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr, und legte ihr dabei die Hand auf die nackte Haut ihrer Schulter. Ihr Charisma und die Spannung zwischen den beiden pflanzte sich durch das ganze Zelt fort wie knisternde Elektrizität. Sie erhob sich wieder und zog die andere an der Hand hoch. „Okay, hier sind wir!“, rief sie den Leuten zu, wie ein Popstar von der Bühne herab.
Unwillkürlich blickte ich zur Seite. Ich hatte gemeint, der Satz sei aus dem Mund von X. gekommen, und es brauchte einen Moment, bis ich meine Verwirrung verstand. X. hatte nichts gesagt. Es war sie, die mit der Stimme von X. gesprochen hatte! Es war, als ob er sich in ihrem Innern befände, und durch ihren Mund sprach. X. selbst hingegen wirkte auf einmal fahl und farblos, leicht verkrümmt sass er da, in sich zurückgezogen.
Der Priester (war er ein Priester?) besprühte die Patientin (war sie eine Patientin?) erneut mit Schnaps. Ich konnte nun riechen, dass es Gin war. Vielleicht bemerkte der unbekannte Mann zu meiner Rechten die vielen Fragen, die ich mir stellte. „Elle est possedée par un genie“, flüsterte er mir zu. „Sie ist von einem Geist besessen.“ Ein Geist? Vermutlich bemerkte niemand ausser mir den Austausch, der sich da gerade zwischen X. und der Frau vollzog.
Ich blickte X. ins Gesicht. Er schaute durch mich hindurch, als ob er mich nicht kenne und wandte dann die Augen rasch und verlegen ab.
„Geht’s dir gut?“, fragte ich.
Er schien meine Frage nicht zu verstehen.
„Ça va?“ wiederholte ich.
„Oui, merci“, sagte er höflich, mit einer schüchternen Fistelstimme, und blickte zu Boden.
Ich hoffte bloss, dass die Vertauschung nicht endgültig war. Und die Therapie des ängstlichen Mädchens nicht darin bestand, jemandem eine robustere Seele zu klauen.
Ich blickte wieder nach vorn. Das Mädchen versuchte inzwischen, die junge Frau zu einem Tanz zu animieren. Die Zuschauer johlten. Der Priester bespritzte sie (ihn?) nun mit einer anderen Flüssigkeit, vielleicht einer Art Weihwasser, offenbar um sie zu beruhigen. Das wirkte tatsächlich. Auf einmal setzte sie sich erschöpft zu Boden und vergrub den Kopf in ihren Händen. Schämte sie sich für ihr Verhalten, kam sie wieder zu (ihrem eigenen) Bewusstsein? Zugleich geschah nun auch mit X. eine Veränderung. Er richtete sich auf, sein schummriger Blick wurde wieder fokussierter, er schaute sich etwas desorientiert um, als ob er erwachte.
„Guten Morgen!“ sagte ich zu ihm. Er verstand offensichtlich wieder Deutsch, schaute mich allerdings verwirrt an, als komme er gerade aus einem Traum zurück und erinnerte sich erst langsam wieder an mein Gesicht.
„Ich bin müde“, sagte er endlich. „Gehen wir nach Hause.“
Er war nicht mehr fähig zu fahren, und als wir in seiner Wohnung ankamen, schaffte er es nicht einmal mehr ins Schlafzimmer. Er legte sich aufs Sofa und schlief gleich ein. Am nächsten Morgen erzählte ich ihm, was vorgefallen war, aber er erinnerte sich nicht an die Besessenheit.
Gegen Mittag, als er langsam wieder in Form kam, sagte er: „Zu dumm. Ich war ein anderer, aber nun kann ich mich nicht einmal daran erinnern.“ Er dachte eine Weile nach, und fügte dann hinzu: „Aber irgendwie auch logisch. Man kann ja nicht zwei Personen zugleich sein. Ausser vielleicht in einer Psychose.“
Der Text ist ein Auszug aus dem entstehenden Roman „Tod eines Tricksters“.

David Signer (*1964), promovierter Ethnologe, hat mehrere Jahre in Afrika und im Nahen Osten verbracht. Er ist der Autor des Buches „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ über die Auswirkungen des Hexereiglaubens auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Der Bild- und Textband „Grüezi – Seltsames aus dem Heidiland“, in Zusammenarbeit mit Andri Pol, erschien 2006. Sein erster Roman „Keine Chance in Mori“ folgte 2007 bei Salis, der zweite Roman „Die nackten Inseln“ 2010. „Weniger Verbote, mehr Genuss! Ein Plädoyer gegen die Entmündigung“ erschien 2013 und „Grenzen erzählen Geschichten – Was Landkarten offenbaren“ 2015. David Signer arbeitete für „Das Magazin“, „Weltwoche“, „Du“, „Geo“ und „NZZ am Sonntag“ sowie als Forschungsassistent und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Heute ist er Afrikakorrespondent für die NZZ und lebt in Dakar.