Von Éric Sarner
1960. Alexis hat wenig Zeit zum Schreiben. Er widmet sich ganz dem Kampf gegen Duvalier und dem Aufbau seiner Partei. Er hält heimliche Versammlungen ab, in Port-au-Prince und auf dem Land. Im Brief an einen Freund beklagt er sich, dass er so viele Berichte schreiben muss. Seine Partei, der „Parti d’entente populaire (PEP)“, erfreut sich eines gewissen Erfolgs, und Alexis ist sehr bekannt. Duvalier lässt es zu mit dem Hintergedanken, die Wirtschaftshilfe der Vereinigten Staaten herauszupressen. Sobald die Gelder im Land sind, lässt die Regierungsmacht Hunderte von Militanten verhaften. „Sie sind verrückt geworden, vollkommen verrückt“, schreibt Alexis an Chesnokov im Juni.
In diesem Klima also bricht Alexis auf, um sein Land auf der Konferenz der Kommunistischen Parteien in Moskau zu vertreten. Der PEP ist al einundachtzigste Bruderpartei aufgenommen worden. Jacques beantragt einen Pass und ein Ausreisevisum, die ihm beide verweigert werden. Zu Alexis’ Freunden gehört einer, Roger Alexandre, der jünger ist als er und gerade ein Stipendium für das Studium an der Lumumba-Universität in Moskau erhalten hat. Alexandre hat einen gültigen Pass. Die beiden Männer ähneln sich ein bisschen. Roger Alexandre verzichtet auf dein Stipendium und überlässt Alexis seinen Pass, dem es gelingt, die Flughafenpolizei zu täuschen. Er fliegt nach Europa und trifft in Bern die drei anderen Mitglieder der Delegation des PEP, die jeweils die Arbeiter, Bauern und jungen Haitianer vertreten. Einer von ihnen, Urchain. Wahrscheinlich denkt Alexis daran, um Hilfe zu bitten, und zögert zwischen der UdSSR und China. Er kann den Streit zwischen beiden Regierungen schlecht ertragen. Von Bern aus bricht die Gruppe – mit einer kurzen Unterbrechung in Prag – nach Moskau auf. Ein paar Tage später bringt sie eine Tupolev nach China. Während der Zwischenlandung in Ikursk spielen Urchain und Alexis Schach. Eine Gruppe Asiaten betritt die Abflughalle. Urchain glaubt Ho Chi Minh zu erkennen. Jacques glaubt es nicht. Es ist aber tatsächlich Ho Chi Minh. Im Flugzeug spricht dieser von General Sonne und erzählt, dass er zu Haus eine kleine Figur besitzt, die Toussaint Louverture darstellt. Jacques Alexis erklärt ihm die gegenwärtige Lage in Haiti.
In China hat Jacques ständig Kontakte. Er geht nach Schanghai, besichtigt Krankenhäuser und Schulen, trifft Mao und Tschu en-Lai, setzt sich bei ihnen für ein Treffen mit den Sowjets ein und schreibt schliesslich auf Maos Wunsch in einer Nacht und mit Hilfe von mehreren Päckchen Zigaretten ein langes Thesenpapier, das seinen Standpunkt darstellt. Im September gibt er in Moskau einen weiteren langen Bericht ab, der die Versöhnung mit China unterstützt. Die Annäherung wird tatsächlich stattfinden. Die vier Haitianer bleiben in Moskau, wo bald schlechte Nachrichten aus Port-au-Prince eintreffen: Es handelt sich um die erste umfangreiche Repression gegen die Studenten. Alexis will zurück. Die Sowjets versuchen ihn davon abzubringen. Er fährt dennoch. In Paris beschliessen Urchain und die beiden anderen, nach Port-au-Prince zurückzukehren. Alexis geht nach Havanna, wo er zahllose Unterredungen mit Kubanern und haitianischen Kommunisten hat. Vielleicht trifft er auf Che Guevara. Man kann davon ausgehen, dass Alexis seine Rückkehr plant. Welche Art von Rückkehr? Hat er bereits die Idee einer „Invasion“ im Kopf?
In den Tagen um den 22. April – er ist genau neununddreissig Jahre alt – landet Alexis, der von Baracoa auf der kubanischen Seite aufgebrochen ist, in der Nähe von La Platforme an der haitianischen Küste. Er wird begleitet von vier Männern, alle vier Haitianer: Charles-Adrien Georges, Max Monroe, Hubert Dupuis-Nouillé und Guy Belliard. Es sieht nicht so aus, als gäbe es Waffen an Bord des Boots – man wird nur einen Revolver für alle fünf finden. Dafür bringt Alexis mehrere Pakete seiner Bücher in spanischer Sprache mit. Und die Summe von dreizehntausend Dollar in grünen Scheinen.
Werden sie von den Bauern, die sie anlegen sehen denunziert? Wurden sie bereits erwartet, preisgegeben von Kuba sogar? Alexis und seine Freunde werden verhaftet und mit Sisalschnüren gefesselt. In Môle-Saint-Nicolas werden sie gefoltert und gesteinigt. Mehrere von ihnen werden getötet. Was Jacques Alexis betrift, ist dies genau der Augenblick, an dem das Rätsel seines „Verschwindens“ beginnt. Dennoch …
Aus dem Französichen von Verena Nolte
Aus „Windpassage. Eine Reise nach Haiti“, Klett-Cotta, Stuttgart 1998
Éric Sarner ist Dichter und Journalist („Libération“, „Le Monde“) sowie Autor von preisgekrönten Fernseh-Dokumentationen (Arte, ZDF, Antenne 2).