Von Rodney Saint-Éloi
Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab
Das ist mein Name bei Tagesanbruch
Ich bin weder Marie noch Altagrace*
Ich mag das Schicksal der Jungfrauen nicht
noch ihr in Lindenholz geschnitztes Gesicht
Sie murmelt mit ihrer hellen Stimme
Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab
Ich bin mit der Sonne verabredet
Der Himmel schlägt die Finsternis
Die Horizonte sind müde
Das Herz markiert den Tag
Im Goldstaub
Ich bin nicht tot
Der Tod wird mich in der linken Herzhälfte treffen
Wenn ich der Zeit mein Blut gegeben haben
Schließe ich die Augen um zu schlafen
Schließe ich die Augen um zu weinen
Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab
Die ein widerspenstiger Stern
In einem Land der Gewürze erzeugte
Ich habe keine zertifizierte Identität
Ich bin nicht die Fremde
Ich bin nicht die Feindin
Die Länder teilen mich in sieben Nationen auf
Ich weiß nichts über mein Gesicht
Die Spiegel drehen sich nicht um bei meinem Durchzug
Sie wirft ihren Körper auf den weißen Sand
Sie folgt der Gazelle die ihre Haut leckt
Vier Richtungen der Horizont
Das Herz schlägt schwach
Jedem seine Papierschiffe
Seine Himmel mit blauen Trompeten
Und seine überfälligen Rechnungen
Die Zeit der Liebesschwüre
Die Schwangerschaft der Ostwinde
Die Not der brausenden Meere
Der Selbstmord der Bienen im Frühling
Die Bäume verlieren ihre Blätter in den sieben Wäldern
Kähne mit Legenden fangen Feuer
Wer bin ich den ich nicht kenne
Was für ein Zufall diese Fehlermeldung
Ich sage ich wenn das Gewitter kommt
Ich sage ich wenn das Meer aufgewühlt ist
Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab
Ich verkaufe meine Legenden auf Kredit
Gibt es in diesem barbarischen Gedicht
Eine Frage die mich herausfordern
Mir meine Gesichtszüge erklären
Oder meine Genitalien besprechen kann
Ich fasse alles ins Auge was einfach ist
Die Lektion des Offensichtlichen
Die Alltagsrituale
Die Geschichte der Besiegten
Böse Zungen werfen mir vor
Mit meinen Schatten zu schlafen
Der Richter wird mich ins Zuchthaus bringen wenn ich aussagen werde
Die Wäscheleine der Gehängten der Witwer der Verzweifelten
Kommt Ihnen mein Tanz anarchisch vor
In welcher Jahreszeit wächst die Blume der Unerschrockenheit
Welcher Fluss erzählte mir den Herbst
Die Geschichte meiner Ahnen
Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab. Dies ist kein Gedicht. Der Baum sucht sein Gesicht. Ich bin Tochter, Baum und Weg in einem. Ich begleite die, die der Nacht ihre Fabel und ihren Schoß darbietet. Ich würde gern bis ans Ende gehen, ohne den Weg zu kennen. Ich stolpere, rutsche aus und rede wirres Zeug. Was soll’s. Ein Vogel schlägt die Trommel in meinem Kopf, eine Hexe redet durch meinen Mund, oder Liebeskummer quält mich. Als Sturm heiße ich Wirbelwind. Ich durchkämme die Schatten. Ich bin verabredet mit dem ersten Stern, der fällt. Mein Schoss gebärt Geschichten, die endlos von vorn anfangen. Es gibt immer ein Leben zu leben oder neu zu leben. Man weiß nichts über das, was zehrt oder antreibt. Ich besiegle meinen Pakt mit dem Exil und dem Wahnsinn. Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab. Um mein Gesicht wiederzuerlangen, muss ich meine Geheimnisse den Winden anvertrauen. Ich kenne weder den Appetit noch das Gefängnis von dem, was man leben nennt. Lasst mich im Innern der Träume gehen. Ich weine, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich existiere und dass ich liebe. Ich lache zu laut, rede bis zur Erschöpfung, berühre die Horizonte mit der Geduld der Hirtin und der Angst der Matrosen. Ich bin schön, feurig und unverschämt. Ich habe die Sonne in der einen und die Erde in der anderen Hand. Das ist meine Art, der Ewigkeit aufzulauern. Ich habe Brüste, die über den Tod lachen. Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab. Ich suche das Wort der Morgenröte. Ich heule. Ich schweife ab. Ich swinge. Hört diese vielfältige Stimme nicht. Es ist meine Seele, die zerbricht. Das Gedicht oder das, was von meiner Identität übrig ist, bleibt eine verhinderte Wahrheit. Verbraucht. Ich bin die Tochter des verbrannten Baobab.
Altagrace: Die Jungfrau von Altagracia, Schutzpatronin der Dominikanischen Republik, wird auch in Haiti viel verehrt.
Aus dem Französischen übertragen von Margrit Klingler-Clavijo
Aus: „Ich wohne auf der Autobahn der Träume. Ausgewählte Gedichte / J’habite l’autoroute des rêves. Poèmes choisis“, erscheint im Frühjahr 2021 bei Litradukt
Rodney Saint-Éloi ist Dichter, Schriftsteller, Essayist und Verleger. Geboren in Cavaillon (Haiti), wanderte er 2001 nach Kanada aus.Er ist Autor von etwa 15 Gedichtbänden, darunter „Je suis la fille du baobab brûlé“ (2015) und leitet den Verlag Mémoire d’encrier, den er 2003 in Montreal gegründet hat. Sein erster Gedichtband in deutscher Übersetzung erscheint im Frühjahr 2021 bei Litradukt.